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Aserbaidschan als neuer EU-Energiepartner

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Während die Lieferung von aserbaidschanischem Erdgas nach Europa über den Südlichen Gaskorridor bereits im Dezember 2020 begann, besuchte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 18. Juli 2022 Aserbaidschan, um die bilaterale Zusammenarbeit zu erweitern. Zu neuen strategischen Partnerschaften im Energiebereich hat LGP Legal Consultant Orkhan Ismayilov den stellvertretenden Energieminister der Republik Aserbaidschan Elnur Soltanov interviewt.

Ismayilov: Die zwischen der EU und Aserbaidschan unterzeichnete Absichtserklärung sieht unter anderem eine erhebliche Steigerung der Gaslieferungen aus Aserbaidschan in die EU vor. Welche Auswirkungen werden Aserbaidschan und der Südliche Gaskorridor (SGC) auf die Energieversorgungssicherheit der EU in den kommenden Jahren haben?

Soltanov: Diese Absichtserklärung wurde in einer für die globalen und europäischen Energiemärkte kritischen Zeit unterzeichnet. Sie unterstreicht den strategischen Charakter der Energiepartnerschaft zwischen der EU und Aserbaidschan und baut auf einem ähnlichen Dokument über eine strategische Partnerschaft im Energiebereich aus dem Jahr 2006 sowie auf der gemeinsamen Erklärung zum Südlichen Gaskorridor aus dem Jahr 2011 auf. Die neue Absichtserklärung bezieht sich auf die gemeinsame Verpflichtung, die Erdgasexporte nach Europa über den Südlichen Gaskorridor (SGC) bis 2027 zu verdoppeln.

Der SGC hat sich bereits als zuverlässiger Beitrag zur Versorgungssicherheit und zum Wettbewerb auf dem Markt erwiesen – zwei Hauptpfeiler der europäischen Energiepolitik. Die verstärkten Lieferungen aus Aserbaidschan werden eine wichtige Rolle spielen bei der Versorgung gefährdeter Regionen mit dem dringend benötigten Gas. Das Potenzial für den Transit von Gas mit Ursprung außerhalb Aserbaidschans könnte ebenfalls als ergänzende Option in Betracht gezogen werden.

Die EU hat eine Reihe neuer Rechtsakte verabschiedet, um bis 2050 Kohlenstoffneutralität zu erreichen. Die Rolle von fossilem Gas wird darin als eine Übergangs-Energiequelle mit schrittweisen Beschränkungen für seine Nutzung sowie mit Anforderungen an kohlenstoffarme Standards anerkannt. Gleichzeitig wird im REPower-Plan der EU und in den Dokumenten zum „externen Energieengagement der EU in einer sich wandelnden Welt” hervorgehoben, dass „die Unterstützung des Ausbaus des SGC auf 20 Mrd. Kubikmeter pro Jahr eine wichtige Rolle bei der Sicherung der Gasversorgung Südosteuropas und des westlichen Balkans spielen wird”.

Darüber hinaus wird die Absicht bekundet, „die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan angesichts der strategischen Bedeutung des SGC zu intensivieren”. Im Jahr 2021 exportierte Aserbaidschan 19 Mrd. m3 Erdgas, davon 8,2 Mrd. m3 nach Europa. In diesem Jahr werden wir die Gaslieferungen nach Europa auf 12 Mrd. Kubikmeter erhöhen.

Die Trans-Adria-Pipeline (TAP) hat allen Ländern entlang ihrer Route und darüber hinaus einen mehrdimensionalen wirtschaftlichen Nutzen in Form von Arbeitsplätzen, Investitionen in lokale Gemeinschaften und Einnahmen gebracht. Dadurch wurden die Energiesysteme der beteiligten Länder stabiler und sicherer gemacht und die Preise für Bürger und Unternehmen dank eines besseren Gas-zu-Gas-Wettbewerbs gesenkt.

Die TAP wird auch die Marktintegration in Südosteuropa über physische Verbindungsleitungen wie den Interconnector Griechenland-Bulgarien und in Zukunft hoffentlich auch die Ionisch-Adriatische Pipeline fördern.

Im Juli wurde der Interkonnektor Griechenland-Bulgarien eingeweiht, der als Vorbote neuer Projekte im Zusammenhang mit dem Ausbau des SGC gilt und aserbaidschanisches Gas nach Bulgarien transportieren wird. Wie schätzen Sie das weitere Ausbaupotenzial des SGC in Bezug auf die Kapazität und die geografische Ausdehnung ein?

Was die zusätzlichen Erdgasmengen für die europäischen Länder durch die Erweiterung und den Ausbau des SGC betrifft, so sollten jetzt konkrete Maßnahmen ergriffen werden, damit bis etwa 2027 erhebliche Gasmengen zur Verfügung stehen. Es gibt Klarheit und Transparenz auf der Angebotsseite mit riesigen Gasreserven in Aserbaidschan. Wir brauchen hier das gleiche Maß an Klarheit auf der Nachfrageseite. Wir müssen auch einige wichtige Fragen klären, z. B. wie die EU den SGC unterstützen könnte, indem sie diesem Vorrang einräumt und zusätzliche Regulatorien schafft, um den Prozess zu beschleunigen. Dabei geht es auch darum, welche finanziellen Anreize geschaffen werden könnten und welche praktischen Möglichkeiten zur Rationalisierung von Angebot und Nachfrage bestehen.

Ein weiterer Ausbau wird auch von einem zuverlässigen Netz von Verbindungsleitungen abhängen, wofür die Verbindungsleitung Griechenland-Bulgarien derzeit ein gutes Beispiel ist. Vor geraumer Zeit haben wir einen Dialog mit den westlichen Balkanstaaten über mögliche Gaslieferungen in diese Region aufgenommen. Auch die Europäische Kommission hat sich an diesem Dialog beteiligt, der ein natürlicher Bestandteil der Energiewende in den westlichen Balkanstaaten hin zu einer dekarbonisierten Wirtschaft ist. Es gibt eine Nachfrage nach zusätzlichen Gasmengen von unseren anderen Partnern. Es liegt auf der Hand, dass manchmal sogar kleine Mengen zusätzlichen Gases für ein bestimmtes Land eine enorme Diversifizierung bedeuten können.

Bekanntlich ist Shah Deniz das größte Gasfeld in Aserbaidschan und bisher der einzige Beitrag zum SGC. Während die Reserven von Shah Deniz auf rund 1,2 Billionen Kubikmeter geschätzt werden, verfügt Aserbaidschan über mehr als doppelt so viele nachgewiesene Gasreserven. Was können Sie über die anderen Gasfelder sagen und welches Potenzial bieten diese?

Die nachgewiesenen Gasreserven Aserbaidschans belaufen sich auf 2,6 Billionen Kubikmeter und die geschätzten Reserven auf etwa 3 Billionen Kubikmeter. Allein das Potenzial der Felder Umid, Babek und Absheron beträgt mehr als 1,7 Billionen Kubikmeter. Im Rahmen des umfassenden strategischen Energiedialogs mit der EU, der vor einigen Monaten aufgenommen wurde, hat Aserbaidschan sein potenzielles inländisches Produktionsprofil und mögliche Erweiterungsszenarien vorgestellt, die auf die Verfügbarkeit zusätzlicher Gasmengen für den vollständigen Ausbau des SGC hinweisen.

Klarerweise erfordert die Förderung zusätzlicher Gasmengen in Aserbaidschan und darüber hinaus milliardenschwere Investitionen im vorund nachgelagerten Bereich, die nur auf der Grundlage langfristiger kommerzieller Vereinbarungen zwischen Produzenten in Aserbaidschan und Abnehmern in Europa sowie durch einen geregelten Prozess verbindlicher Kapazitätsbuchungen erzielt werden können. Erfreulicherweise enthält die neue Vereinbarung eine Bestimmung, die die Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten bei der Finanzierung des Ausbaus des SGC fördert, auch durch die Zusammenarbeit mit internationalen Finanzinstituten.

In Fortsetzung der jüngsten Absichtserklärung deckt das Dokument auch die Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien ab. Wie wollen Sie gemeinsam die Entwicklung und den Einsatz der erneuerbaren Energien beschleunigen?

Die Gasversorgung ist nur ein Teil der neuen Absichtserklärung zwischen Aserbaidschan und der EU. Das Dokument enthält umfangreiche Teile, die sich auf erneuerbare Energien, Energieeffizienz, erneuerbaren Wasserstoff und den potenziellen Export von grünem Strom in die EU beziehen. Erneuerbare Energien und die grüne Energiewende sind auch ein wichtiger Teil unseres laufenden Energiedialogs mit der EU. Zudem hat das Kaspische Meer ein enormes Potenzial für Windenergie, das ist zahlenmäßig eine weltweit bedeutende technische Reserve von 157 GW. Unser Ziel ist gemäß der jüngsten Absichtserklärung mit der EU über eine strategische Energiepartnerschaft neue Routen für den Export von grüner Energie bzw. grünem Strom nach Europa zu schaffen. Neben dem SGC werden wir einen grünen Energiekorridor entwickeln, der Aserbaidschan mit Europa verbindet. Es gibt zwei praktikable Möglichkeiten, ihn zu verwirklichen:

  1. Über das aserbaidschanische Festland, den Zangazur-Korridor und den Nachitschewan AR von Aserbaidschan in die Türkei und nach Europa
  2. Über das Schwarzmeer-Unterwasserkabel durch Georgien, Rumänien und Ungarn.

Vor kurzem haben wir mit führenden Unternehmen richtungsweisende Verträge über die Entwicklung des enormen Potenzials der Offshore-Windenergie im Kaspischen Meer (neben Onshore-Projekten) abgeschlossen. Und wir arbeiten derzeit parallel auch an Exportkanälen für diese neuen Mengen an grünem Strom und wahrscheinlich auch Wasserstoff für potenzielle Märkte vor allem in Europa.

Wenn wir speziell über Wasserstoff sprechen, welche Ziele hat sich Ihr Land in Bezug auf dieses Thema gesetzt? Gibt es auch ein Potenzial für den Transport von Wasserstoff entlang des SGC?

Im vergangenen Jahr wurde eine behördenübergreifende Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Wasserstoffstrategie in Aserbaidschan eingerichtet. Mit Unterstützung der EBRD ist das Beratungsunternehmen Advision an der Entwicklung der „Low-carbon hydrogen economy market study” für Aserbaidschan beteiligt. Dieses Projekt besteht aus dem Länderbericht Aserbaidschan und Wasserstoff-Fallstudien. Der Länderbericht umfasst die aktuelle und zukünftige Nachfrage, die bestehende und prognostizierte Produktion, die Analyse der Wasserstoffproduktionskosten, den politischen, regulatorischen und finanziellen Kontext sowie die Bewertung der Exportmöglichkeiten von kohlenstoffarmem Wasserstoff in die Energiemärkte. Bis Ende 2022 sollen dann von einem Beratungsunternehmen Fallstudien zur Anwendung von Wasserstoff erstellt und der Arbeitsgruppe vorgelegt werden.

Wir glauben, dass es eine wirtschaftliche Grundlage für die Produktion und den Export von grünem Wasserstoff gibt. In Zukunft wird es daher mehr Möglichkeiten für die gesamte Wertschöpfungskette der Wasserstoffentwicklung geben, da wir sehen, dass auch unsere EU-Partner verschiedene Initiativen zur Unterstützung der Wasserstoffproduktion und -nutzung starten. Wir untersuchen derzeit auch, ob und wie unsere bestehenden nationalen und internationalen Erdgasleitungsnetze in der Lage wären, einen bestimmten Wasserstoffmix zu transportieren.

Das Land Aserbaidschan und unser Abschnitt des Kaspischen Meeres sind reich an traditionellen Energiequellen. Dieses große Potenzial an Rohstoffen wurde seit den 1990er Jahren strategisch in fruchtbare Quellen des Wohlstands und der Sicherheit für unser Land umgewandelt, was sich auf die Nachbarschaft bis hin nach Europa positiv ausgewirkt hat. Es freut uns sehr, dass dieselben Länder und das Kaspische Meer jetzt ein neues Potenzial in Form von grüner Energie bieten. Es ist nur mehr eine

Frage der Zeit, bis Aserbaidschan auch zu einem zuverlässigen und vertrauenswürdigen Lieferanten grüner Energie aufsteigt, die große Vorteile im eigenen Land und darüber hinaus mit sich bringt.

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