Update: Medienrecht - Gerald Ganzger im Horizont
Unschuldsvermutung vs. Opferschutz

Die Unschuldsvermutung wird durch Artikel 6 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) garantiert. Diese Bestimmung besagt "Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist." Dieser Grundsatz bindet Gerichte und andere staatliche Organe. Die Unschuldsvermutung ist auch medienrechtlich geschützt. Wird eine noch nicht rechtskräftig verurteilte Person in einem Medium als überführt oder schuldig hingestellt oder als Täter einer strafbaren Handlung bezeichnet, kann diese Person Entschädigungsansprüche gegen das Medium stellen. Gilt dieser mediale Schutz der Unschuldsvermutung aber auch dann, wenn nicht ein Medium, sondern das Opfer selbst in einem Facebook-Posting den Tatverdächtigen als Täter bezeichnet beziehungsweise hinstellt?
Mit einem solchen Fall musste sich der OGH vor Kurzem befassen. Eine Österreicherin, die mit einem Amerikaner verheiratet war, floh mit ihrer kleinen Tochter nach Österreich. Nachdem der OGH in Österreich aufgrund internationaler Abkommen die Rückführung der kleinen Tochter zum Vater in die USA angeordnet hat, wandte sich die Ehefrau mit einem Facebook-Posting an die Öffentlichkeit, mit der Bitte eine Petition an die Bundesregierung, die Rückführung ihrer kleinen Tochter in die USA zu verhindern, zu unterzeichnen. In diesem Posting schrieb die Ehefrau unter anderem, dass sie in der Ehe vergewaltigt worden ist. Der Ehemann brachte dagegen eine Klage samt Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung gegen die Ehefrau ein. Die Gerichte nahmen als bescheinigt an, dass der klägerische Ehemann seine Ehefrau mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Der OGH musste sich somit mit der Frage auseinandersetzen, ob an die Beurteilung der Äußerungen eines Opfers einer Straftat dieselben Maßstäbe anzuwenden sind, wie an die Veröffentlichung von Vorwürfen in einem (dritten) Medium. Der OGH gelangte zu dem Ergebnis, dass "der Beklagten - unabhängig vom Umstand, dass derzeit keine strafgerichtliche Verurteilung des Klägers vorliegt -nicht verwehrt werden kann, über ihre eigene Vergewaltigung zu berichten". Der OGH führte weiters aus, dass "wegen der dargelegten Besonderheit des Sachverhalts im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der Ehefrau und den Rechten des Ehemanns das Posting auf der Facebookseite der beklagten Ehefrau auch dann nicht zu beanstanden wäre, wenn man das Posting als Medium qualifizieren würde."
Der OGH betonte aber ausdrücklich, dass diese von ihm vorgenommene Abwägung in anderen Fällen anders ausfallen könnte, "etwa wenn das (Persönlichkeits-)Recht des Äußernden weniger stark beeinträchtigt ist, bei geringerem Gewicht des Vorwurfs oder wegen der verstrichenen Zeit". Diese Entscheidung des OHG ist somit jedenfalls kein Freibrief für Opfer einer Straftat den Tatverdächtigen als schuldig hinzustellen beziehungsweise als Täter zu bezeichnen.